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Mit ADHS erfolgreich im Beruf

So wandeln Sie vermeintliche Schwächen in Stärken um

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Mit ADHS erfolgreich im Beruf
Heiner Lachenmeier
Verlag
Springer
ISBN-Nummer
978-3-662-62289-6
Preis
22, 99 €
Kaufen bei Diana Künne, Pädagogischer Verlag und Buchhandlung

„Wir Menschen brauchen ein Verstehen unserer Welt“ – die Einstiegsworte beschreiben, was dieses Buch Menschen mit ADHS zu schenken vermag.

Dr. Heiner Lachenmeier ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ist selbst ADHSler – oder sollten wir lieber sagen: UMIFler? „Unusual Management of Informations and Functions“ wäre laut Lachenmeier ein passenderer Begriff anstatt von AufmerksamkeitsDEFIZIT- und HyperaktivitätsSTÖRUNG. Der Lesbarkeit willens bleibt der Autor dankenswerter Weise doch beim altbekannten Begriff ADHS. So beschreibt er ADHS als ungewöhnliche Art, Information im Alltag zu verarbeiten und stellt es weder einseitig als Defizit, noch als Superkraft dar. Die angenehm sachliche Beschreibung hilft dabei, die Funktionsweise von ADHS wirklich zu verstehen. Dabei füllt dieses Buch Lücken, die aus meiner Sicht bisher in der Literatur bestanden haben, indem es bestimmte Phänomene nicht nur benennt, sondern auch in einen sinnvollen Kontext einbettet und begründet. Es werden neuropsychologische Modelle gezielt eingesetzt, ohne die Leserschaft mit Fachbegriffen zu überwältigen. Insgesamt ist dieses Buch klar und präzise in einem angenehmen Erzähl-Stil geschrieben, mit einer guten Prise Humor, kurzweilig, übersichtlich, und die Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden. Allein das ist sehr ADHS-geeignet!

Die ADHS-spezifische Art, Informationen zu verarbeiten, erklärt Lachenmeier anhand des Filtermodells: Bei ADHSlern werden Wahrnehmungen automatisch weniger gefiltert, dadurch kommt es zu einer Datenflut. Aus jedem dieser Datenpunkte wächst eine ebenso große Flut aus Gedanken und Assoziationen oben drauf. Alles in einem ein großes Durcheinander, wahrgenommen als „Daten-Nebel“. So, wie auch beim Autofahren Nebel anstrengend ist, nur langsames Vorankommen ermöglicht und leicht zu Desorientierung führt, ist auch „Daten-Nebel“ im ADHS-Alltag eher unpraktisch. Wenn dann eine Verunsicherung durch den fehlenden Überblick, die „Nebel-Angst“, dazukommt, verdichtet sich der Nebel zunehmend. Wie das konkret im Arbeitsalltag aussehen kann, beschreibt der Autor treffend und gibt den Phänomenen einprägsame Namen wie „Eins-Zwei-Drei-Zu Viel! – oder das Mount-Everest-Syndrom“.

Die Fähigkeit, zu priorisieren ist bei ADHSlern aber keineswegs abwesend, es geschieht nur nicht automatisch. Ganz bewusst eine Orientierung zu schaffen, ist für ADHSler von noch viel größerer Relevanz als für Nicht-ADHSler, die viel Information automatisch vorfiltern. Konkrete Strategien, mit denen dies gelingen kann, leitet der Autor nachvollziehbar aus dem Filtermodell ab und erläutert diese anhand von realistischen Fallbeispielen. Bemerkenswert finde ich, dass auch Nebenwirkungen und Missverständnisse zu Coping-Strategien Raum finden. So kommt es nicht selten vor, dass Coping-Strategien von ADHSlern als ein Mittel gegen einen vermeintlichen Defekt wahrgenommen werden. Das in diesem Buch vermittelte Verständnis verdeutlicht, dass die ADHS-Informationsverarbeitung für den Alltag unpraktisch ist, aber nicht defizitär. Unter bestimmten Bedingungen übertreffen Menschen mit ADHS sogar so manche Nicht-ADHSler mit vergleichbarer Intelligenz: Der geringere Reizfilter führt dazu, dass von ADHSlern viel mehr Details absorbiert werden. Auch wenn dadurch die Lernkurve zu Beginn langsamer steigt, verbinden sich die Details mit der Zeit zu einem sinnvollen Zusammenhang. So hat sich ein enormer Wissensfundus gebildet. Durch Querverbindungen fallen vielen ADHSlern innovative Ideen und ungewöhnliche Problemlösungen ein, auf die sonst niemand gekommen wäre. In Notsituationen können viele ADHSler blitzschnell und intuitiv auf einen bereits gebildeten Erfahrungsschatz zurückgreifen. Diese Stärken sind ADHS-Kundigen bereits bekannt. Bemerkenswert ist, dass hier Stärken nicht nur benannt, sondern auch nachvollziehbar nach dem Filtermodell begründet werden, woraus sich konkrete Bedingungen ableiten lassen, unter denen diese Stärken gezeigt werden. So können eventuelle Hindernisse erkannt und Stärken gezielt angesteuert werden. Bei allem Verständnis bleibt der Autor ebenso realistisch: ADHS-typische Schwierigkeiten werden ohne Umschweife und ohne Wertung beim Namen genannt. Auch diese Klarheit trägt maßgeblich zur Orientierung bei. So können sowohl individuelle Stärken als auch persönliche NoGos je nach Situation realistisch eingeschätzt werden. Coping-Strategien werden durch die so vermittelte Perspektive zu Verbündeten, um trotz Nebel und Datenflut den selbst gewählten Kurs weiter zu halten.

Gut durchdachte Strategien und weitere Anregungen zur Orientierung bietet Lachenmeier für verschiedene berufsrelevante Themen an: Ausbildungs- und Berufswahl, neue Einarbeitung, Priorisierung im Alltag, Navigieren zwischenmenschlicher Situationen, auch Selbstwert-Themen erhalten den ihnen gebührenden Raum. Medikamentöse Möglichkeiten werden kurz umrissen und berufsrelevante Einschränkungen, wie spontane Berufsreisen mit BTM-Medikamenten, genannt. Hilfreiche Beschreibungen zum Nachteilsausgleich für Ausbildung und Studium klären häufige Missverständnisse. Darüber hinaus diskutiert der Autor interessante Fragen, zum Beispiel Bedingungen, unter denen ein Outing im Beruf hilfreich oder hinderlich sein kann.

Nun heißt dieses Buch „Mit ADHS erfolgreich im Beruf“, ich finde aber, es geht weit darüber hinaus. Das hier dargelegte Verständnis trägt eindrücklich zu einem kohärenten Bild von ADHS bei, die beschriebenen Strategien sind konkret, realistisch und haben einen breiten Anwendungsbereich. Die vermittelte Haltung macht Mut. Daher empfinde ich dieses Buch als eine große Bereicherung – für ADHSler selbst, ihr Umfeld und ebenso für Profis. Selbst wenn Wissen und Erfahrung um ADHS bereits enorm sind, ebendiese Datenpunkte werden in Lachenmeiers Werk auf gelungene Weise zu einem sinnvollen Zusammenhang verbunden.

 

Anastasia Zhukova